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Nicht systemrelevant: Familie Haller muss die Corona-Zeit mit zwei kleinen Kindern und doppeltem Homeoffice stemmen.Foto: Katrin Kutter

Ich arbeite frühmorgens, weil die Kinder noch schlafen

Die Kitas bleiben vorerst zu, bis auf einen Notbetrieb – und viele Eltern verzweifeln. Fünf lange Wochen haben sie sich coronabedingt durchs Homeoffice gewurstelt und nebenbei Kinder bespielt, getröstet, mit Essen versorgt, gewickelt, waren Eltern, Erzieher und Lohnarbeiter zugleich. Jetzt soll das noch monatelang so bleiben? Hat die Politik Familien mit Kleinkindern vergessen? In den sozialen Medien laufen Eltern unter dem Hashtag #CoronaEltern Sturm. Immerhin: Selbst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfahl in ihrer Studie, zumindest Kinder, die im Sommer in die Grundschule kommen, jetzt schon in Kleingruppen zu betreuen, um sie auf den Übergang vorzubereiten. In Norwegen und Dänemark sind die Kitas trotz Corona wieder geöffnet.

Zwei Familien aus der Region Hannover erzählen hier, wie es ist, täglich Eltern, Erzieher und berufstätig gleichzeitig zu sein – ohne jede Aussicht auf eine schnelle Rückkehr der Kinder in die Kita.

Sibylle und Sven Haller, zwei Kinder: Theo (6) und Paul (2)

Sibylle Hallers Tag beginnt zurzeit morgens um 4.30 Uhr. Um 5 Uhr fängt die Mutter zweier kleiner Kinder mit ihrem Job bei der Concordia Krankenversicherung an. Von zu Hause aus, selbstverständlich. Hallers Beruf ist nicht systemrelevant, auf Kinderbetreuung muss sie seit fünf Wochen verzichten. Dass sie zu dieser nachtschlafenden Zeit überhaupt arbeiten darf, ist ein Geschenk, sagt sie. Denn eigentlich ist ihr Job mit Kundenkontakt verbunden. Den erlässt ihr ihr Arbeitgeber in Corona-Zeiten zumindest für einen Teil ihrer 30-Stunden-Woche. So hat sie wenigstens zwei Stunden am Tag, in denen sie sich voll auf ihre Arbeit konzentrieren kann, weil Theo (6) und Paul (2) noch schlafen.

Um 7 Uhr wachen die Jungen auf: Es gibt einen heißen Kakao, eine Kleinigkeit zu essen, dann müssen die beiden sich in ihrem Zimmer eine Stunde alleine beschäftigen. Denn Mama arbeitet noch eine Stunde – und für Papa, auch in der Versicherungsbranche tätig, beginnt parallel sein Vollzeitjob, auch von zu Hause aus: Videokonferenzen, Kundenkontakt, Anfragen von Kollegen. „Die Tür muss bei uns eigentlich zu sein, eigentlich schon aus Datenschutzgründen“, sagt Haller.

Beide Eltern haben einen komplexen Stundenplan erstellt, um Job und Kinder zu vereinbaren. Sibylle Haller frühstückt um 8 Uhr mit den Söhnen, dann beschäftigt sie sich mit ihnen, bastelt, malt, liest vor, spielt, geht in den Garten oder spazieren. Aber auch der Einkauf, Mittagessen, Wäsche, Haushalt müssen erledigt werden, bevor es um 14 Uhr wieder ins Homeoffice geht. Eine Stunde sind die Jungen dann wieder auf sich gestellt, dann übernimmt Sven Haller nach einem Achtstundentag die Kinder, während Mama bis 17 Uhr arbeitet. Abendessen, Kinder zu Bett bringen, sie falle jeden Abend gegen 20.30 Uhr todmüde ins Bett, sagt sie. Theo, ihr Älterer, kenne das Wort „Homeoffice“ mittlerweile genau, erzählt Haller traurig. Das bedeute, „dass die Eltern ständig und immer arbeiten“.

Haller ist empört darüber, dass man Familien das noch monatelang zumuten will: Sie hat Kultusminister Tonne einen Brief geschrieben. Ja, es gebe Familien, die es noch schlechter hätten, schreibt sie. Aber beide Eltern im Homeoffice, das sei auch ein sehr großes Problem. „Wir gelangen beide langsam an unsere körperlichen und auch psychischen Belastungsgrenzen. Wir hoffen, dass wir das durchstehen können und nicht einer von uns wegbricht, weil der Druck zu stark ist.“

Der Zweijährige verstehe nicht, wieso er nicht mehr mit seinen Krippenfreunden spielen könne, klagt Haller. Er erkenne sie auf der Straße oft nicht einmal mehr wieder. Der Sechsjährige vermisse seinen Kindergarten, Fußball- und Schwimmtraining. Er komme im Sommer in die Schule, nachdem er monatelang keine sozialen Kontakte außerhalb der Familie gehabt habe: „Jede vorschulische Vorbereitung in den Kitas entfällt.“ Eine Notbetreuung von zwei Stunden am Tag oder auch nur zwei- oder dreimal pro Woche würde enorm weiterhelfen, sagt die 34-Jährige. Das niedersächsische Kultusministerium macht ihr in seiner Antwort auf ihre E-Mail wenig Hoffnung. Man verstehe ihre Sorgen, allerdings gebe es in dieser Ausnahmesituation für Kitas, Krippen und Horte bis zu den Sommerferien nur eine Notbetreuung – und diese gelte bei Homeoffice nicht.

Beth und Philipp Pump (ein Sohn, 5)

Bis Ende Mai reicht das Geld. Bis dahin hat Beth Pump ihr schon deutlich geringeres Märzhonorar streng rationiert. 25 Euro pro Woche für Kleinkram für sie und ihren Sohn – mehr ist in April und Mai nicht mehr drin. Ein streng rationiertes Essensbudget, bei dem sie lange nicht mehr so sorgfältig wie zuvor auf die ihr so wichtige, gesunde Ernährung achten kann, soll helfen, so lange wie möglich in Zeiten von Corona durchzuhalten. Beth Pump (38) ist Tänzerin, „Tänzerin aus Leidenschaft“, wie sie sagt. Eigentlich steht sie hinter dem Kurs, den die Bundespolitik in Sachen Corona fährt. „Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg mit dem Virus“, sagt die gebürtige US-Amerikanerin. Aber lange kann sie als Soloselbstständige in einem nicht systemrelevanten Beruf ohne Kinderbetreuung nicht mehr durchhalten, ohne dass ihre Familie existenziell gefährdet ist. Seit fast 16 Jahren lebt die 38-Jährige in Deutschland, Stationen führten sie ans Staatstheater in Bremerhaven, an die Staatsoper Kiel und zu Chefchoreograf Jan Pusch nach Braunschweig. Seitdem unterrichtete Pump in Hannover – unter anderem in der Norddeutschen Tanzwerkstatt. Jetzt hat sie keine Arbeit mehr, Ballettkurse gibt es in Zeiten des strengen Infektionsschutzes nicht. Ihr Mann Philipp, Grafiker, ist in Kurzarbeit. Zeit also für die Familie, für den kleinen Sohn zu Hause? Keine Kinderbetreuung, kein Problem?

Das ist mitnichten so. Denn spätestens Ende Mai wird Pump wieder arbeiten müssen. Ihr Mann wird dann hoffentlich wieder Vollzeit arbeiten, erzählt sie, aber ohne ein zweites Gehalt geht es nicht. Bei der N-Bank hat sie versucht, eine Förderung zu bekommen und kam nach den mehreren Crashs der Website der Bank mit ihrem Antrag einen Tag zu spät. Soforthilfen des Bundes kann sie nicht beantragen, dort werden ausschließlich laufende Betriebskosten gefördert. „Mein Körper ist mein Betrieb, mehr ist da nicht“, sagt Beth Pump leise. In Zeiten von Corona zählt das nicht. Wie aber soll sie Ende Mai ohne Kita wieder arbeiten gehen? Beth Pumps Sohn ist –wie viele Jungen in diesem Alter – ein sehr aktives Kind: „Ich kann ihn nicht stundenlang allein zum Basteln an einen Tisch setzen.“

Eine Betreuung bei zwei Eltern in nicht systemrelevanten Berufen ist aber extrem ungewiss. Pump steht in engem Kontakt mit der Leiterin ihrer Kita, einer Elterninitiative. Man hofft, sie im Notfall mit Sondergenehmigung als Härtefall unterbringen zu können. Aber was, wenn zu viele andere Eltern eindeutigere Ansprüche anmelden? Die härteste Alternative wäre, dass sie sich im Supermarkt an die Kasse setzt. Dort bin ich systemrelevant – mein Sohn ist betreut und ich kann Geld verdienen“, sagt sie und fügt an: „Wenn es nötig ist, mache ich das.“

Bis dahin hofft sie, dass die Politik mehr Flexibilität bei Familien mit kleinen Kindern zeigt. „Die Logik dahinter, dass ich ohne jede Kinderbetreuung arbeiten gehen soll, verstehe ich nicht“, sagt sie gefasst. Die Verzweiflung hinter ihren Worten ist deutlich zu spüren.

Quelle: HAZ, Jutta Rinas

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